Cannabis bei Rheuma: Wundermittel oder Wunschdenken?

Marihuana, Gras, Cannabis. Damit verbinden immer weniger Menschen zugekiffte Leute, die nur für Spaß und Rausch konsumieren. Spätestens seit der (Teil-)Legalisierung von Cannabis im April 2024 in Deutschland nimmt das Interesse an Cannabis als Medizin immer mehr zu. Aber nicht nur Privatpersonen schauen neugierig in Richtung Hanfpflanze, auch die Forschung beschäftigt sich intensiv mit der Wirkung von medizinischem Cannabis.
Besonders interessant für beide: Die Wirkung von Cannabis gegen chronische Schmerzen und Entzündungen, wie sie zum Beispiel bei rheumatischen Erkrankungen auftreten (z.B. rheumatoide Arthritis, Psoriasis-Arthritis, Morbus Bechterew, Lupus erythematodes, Arthrose und Fibromyalgie). Selbst die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRH) hat sich der Frage angenommen und eine umfassende Bewertung von Cannabis bei Rheuma vorgelegt.
Wir schauen uns an, was aktuell zur Behandlung von Rheuma mit Cannabis bekannt ist und was das für Betroffene bedeutet.
Das Wichtigste in Kürze:
- Cannabis kann Rheuma-Symptome wie Schmerzen und Entzündungen lindern, insbesondere durch die Wirkstoffe THC (schmerzlindernd) und CBD (entzündungshemmend).
- Studien im Labor und Tierversuche zeigen vielversprechende Ergebnisse. Klinische Studien am Menschen fehlen allerdings bisher.
- Cannabis ist kein Ersatz für klassische Rheuma-Therapien (DMARDs), aber eine sinnvolle Ergänzung, besonders wenn herkömmliche Medikamente nicht ausreichen oder nicht vertragen werden. Studien zeigen, dass der Einsatz von Cannabis den Gebrauch von opiodbasierten Schmerzmitteln verringern kann.
Eine kleine Geschichte von Cannabis in der Medizin
Cannabis ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Und auch der Einsatz gegen Schmerzen ist bei Weitem nichts Neues. Schon vor fast 5000 Jahren wurde Hanf (Cannabis sativa) in der chinesischen Medizin erwähnt; ägyptische, griechische, indische Schriften beschreiben Cannabis als Heilmittel gegen viele Arten von Beschwerden.
Auch in der moderneren Medizin ist Cannabis bei Rheuma seit Langem Thema: Der irische Mediziner William O'Shaughnessy veröffentliche bereits Mitte des 19. Jahrhunderts umfassende Arbeiten zu den Wirkungen von indischem Hanf bei Rheuma.
Aber: Nur weil etwas schon seit Langem verwendet wird, ist es natürlich nicht zwangsläufig wirksam. Was sagt die Wissenschaft jetzt zur Wirkung von Cannabis bei rheumatischen Beschwerden?
Genauer nachgeschaut: Wie Cannabis im Körper wirkt
Cannabis bzw. Medikamente auf Cannabis-Basis können Teil von unterschiedlichsten Behandlungsansätzen gegen Rheuma sein. Das liegt vor allem an den zwei Haupt-Cannabinoiden THC und CBD, die auf zwei unterschiedlichen Wegen gegen die typischen Rheuma-Beschwerden helfen.
Gut zu wissen: Cannabis enthält über 104 identifizierte Phytocannabinoide als aktive Substanzen, zusätzlich zu Terpenoiden, Flavonoiden und anderen komplexen Pflanzenmolekülen.
THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol)
THC ist verantwortlich für die bekannten psychoaktiven Effekte von Cannabis und wirkt als sogenannter "partieller Agonist" für die Cannabinoidrezeptoren vom Typ 1 (CB1-Rezeptoren). Diese Rezeptoren finden sich nicht nur im Gehirn, sondern auch im Magen-Darm-Trakt und im Immunsystem. THC wirkt besonders gut gegen Schmerzen, wie bereits viele verschiedene Studien gezeigt haben. (1)
CBD (Cannabidiol)
Anders als THC wirkt CBD nicht direkt auf die beiden Arten von Cannabinoid-Rezeptoren (CB1 und CB2). Stattdessen wirkt es als Agonist von Serotonin-5-HT1A-Rezeptoren und TRPV1-Rezeptoren. Die Studienlage belegt recht eindrücklich, dass CBD ein wirksames Mittel gegen Entzündungen im Körper sein kann. (2)
Ist Cannabis nicht illegal?
Cannabisprodukte für den sogenannten "Freizeitkonsum" sind erst seit April 2024 in Grenzen legal in Deutschland erhältlich. Schon vorher konnten Menschen mit starken Beschwerden jedoch medizinisches Cannabis (was letztlich nicht anderes ist als Freizeitcannabis auch - nur die Sorten unterscheiden sich teilweise) auf Rezept bekommen.
Voraussetzung damals wie heute: Es muss eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen und konventionelle Therapien müssen nicht oder nicht ausreichend wirken. Außerdem muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf einen positiven Krankheitsverlauf dank Cannabistherapie vorliegen.
Fertig-Medikamente auf Cannabis-Basis
Tatsächlich gibt es sogar einige Medikamente auf Cannabis-Basis, die relativ häufig bei verschiedenen Erkrankungen zum Einsatz kommen. Zu den zugelassenen Cannabis-Fertigarzneimitteln gehören:
- Nabiximol (Sativex®): Für Spastik bei Multipler Sklerose
- Cannabidiol (Epidyolex®): Für spezielle Formen von Epilepsie
- Nabilon (Canemes®, Cesamet®): Gegen chemotherapiebedingte Übelkeit
- Dronabinol (Marinol®, Syndros®): Bei Kachexie (pathologischer Gewichtsverlust) und Appetitlosigkeit
Das Problem: Ein solches Medikament gibt es bei Rheuma oder Arthritis (noch) nicht.
Trotzdem weist die Studienlage in eine bestimmte Richtung: Cannabis könnte gegen Rheuma helfen - einerseits indem es Schmerzen lindert (THC, CBD), und andererseits, indem es Entzündungen bekämpft (vor allem CBD).
Das sagt die Wissenschaft
Die Studienlage im Überblick
Eine Online-Suche in der Datenbank pubmed nach "medical cannabis" bringt aktuell 15.968 Treffer, 620 davon beschreiben klinische Studien. Beim genaueren Blick sieht das Bild allerdings schon etwas ernüchternder aus: Eine Suche nach "medical cannabis AND rheumatoid arthritis" bringt nur 49 Treffer, darunter keine einzige klinische Studie am Menschen.
Laborstudien
Dennoch: Die Forschungslage im Labor ist wirklich vielversprechend. Studien konnten zeigen, dass Cannabinoide in vitro und in vivo analgetische (schmerzlindernde) und entzündungshemmende Wirkungen haben. Besonders beeindruckend sind die Ergebnisse zur Hemmung von Entzündungsbotenstoffen, vor allem durch CBD. (3)
Tiermodell
Auch im Tiermodell liefert Cannabis bereits gute Ergebnisse: So konnte eine Studie zeigen, dass bei oraler Einnahme von 25 mg/kg Körpergewicht pro Tag eine deutliche Linderung der rheumatischen Beschwerden eintritt. (4) Aber: Diese Dosis ist natürlich für die Anwendung beim Menschen nicht umsetzbar.
Ergebnisse vom Bundesinstitut für Arzneimittel & Medizinprodukte
Eine interessante Veröffentlichung zum Thema Cannabis und Schmerzen/Rheuma gibt es außerdem vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Die 2022 veröffentlichte deutsche Cannabis-Begleiterhebung wertete insgesamt 16.809 Datensätze aus. 73 % hatten medizinisches Cannabis aufgrund von Schmerzen verordnet bekommen. Allerdings war auch hier der Anteil an Diagnosen mit explizit entzündlich rheumatischen Erkrankungen recht klein (nur 2,6 % aller untersuchten Datensätze). (5)
Die Ergebnisse sind dennoch ermutigend: Knapp 75 % der Patienten berichteten durch die Anwendung von Cannabisarzneimitteln von einer Besserung ihrer Symptomatik. In 70 % der Fälle wurde von einer Besserung der allgemeinen Lebensqualität berichtet.
Interessant ist auch der Vergleich verschiedener Darreichungsformen: Mit Cannabisblüten behandelte Patienten bewerten den Therapieerfolg grundsätzlich höher, brechen die Therapie seltener ab und berichten seltener von Nebenwirkungen als bei Anwendung von Medikamenten auf Cannabis-Basis (z.B. Tabletten).
Nebenwirkungen und Risiken
Nebenwirkungen der Anwendung von medizinischem Cannabis sind in der Regel sehr mild. Müdigkeit und Schwindel kommen am häufigsten vor. Bei hochdosiertem CBD können Leberanomalien, Durchfall, Erbrechen und Schläfrigkeit auftreten.
Wichtige Wechselwirkungen
Arzneimittel wie Rifampicin, Carbamazepin oder Johanniskraut können die Wirkung des Inhaltsstoff CBD verringern. Klinisch signifikante Wechselwirkungen bestehen bei gleichzeitiger CBD-Anwendung mit Warfarin, Omeprazol, Propofol und Lorazepam.
Abhängigkeitspotenzial
Ein wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird: Auch medizinisches Cannabis (bzw. der Inhaltsstoff THC) kann grundsätzlich abhängig machen, allerdings weniger stark und schnell als Opiode, die oft bei starken und anhaltenden Schmerzen verschrieben werden. Tatsächlich kann Cannabis helfen, den Bedarf an verschreibungspflichtigen Opioide zu verringern. (6)
Cannabis-Sorten für Rheuma-Patienten
Achtung: Die Auswahl der geeigneten Sorte sollte immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen. THC-dominante Sorten können die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen und sind nicht für alle Patienten geeignet (z.B. bei THC-Empfindlichkeit oder wenn psychoaktive Effekte ausgeschlossen werden sollen).
Cannabis in der Praxis
Wer kann Cannabis verschreiben?
Generell kann jeder Facharzt medizinisches Cannabis verordnen. Du kannst also sowohl mit deinem Rheumatologen als auch mit deinem Hausarzt sprechen.
Darreichungsformen
Die verschiedenen Anwendungsformen haben unterschiedliche Vor- und Nachteile:
- Inhalation (Vaporisation): Schneller Wirkungseintritt, gute Dosierbarkeit, aber kurze Wirkdauer von 2-4 Stunden.
- Orale Einnahme: Längere Wirkdauer (6-8 Stunden), aber verzögerter Wirkungseintritt und schlechtere Dosierbarkeit.
- Topische Anwendung: Lokale Wirkung ohne systemische Nebenwirkungen, ideal für Gelenkschmerzen.
Dosierung
Die Dosierung ist hochindividuell und sollte immer schrittweise angepasst werden. Generell gilt: "Start low, go slow" - starte also mit niedrigen Dosen und steigere dich langsam. Wichtig dabei: Deine optimale Dosis liegt oft deutlich unter der maximalen Verträglichkeitsgrenze.
Cannabistherapie vs. andere Rheuma-Therapien
Vorteile gegenüber Opioiden
Cannabis hat gegenüber klassischen Opioid-Schmerzmitteln mehrere Vorteile: geringeres Abhängigkeitspotenzial, keine Atemdepression, weniger Verdauungsprobleme. Außerdem kann es helfen, den Opiod-Konsum zu senken. (6)
Vorteile gegenüber NSAIDs
Im Vergleich zu nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAIDs) zeigt Cannabis weniger Magen-Darm-Toxizität und keine Nierenschädigung. Die kardiovaskulären Risiken sind ebenfalls geringer.
Limitationen gegenüber DMARDs
Cannabis ersetzt keine krankheitsmodifizierenden Antirheumatika (DMARDs). Es behandelt lediglich die Symptome, nicht die Ursachen der Entzündung.
Erfahrungen von Anwendern
Was Patienten berichten
Patienten berichten häufig von:
- Verbesserter Schlafqualität
- Reduktion der Schmerzintensität
- Verbesserter Stimmung
- Erhöhtem Appetit
- Reduktion von Bewegungseinschränkungen und Steifheit
Insgesamt berichten Anwender von einem allgemein verbesserten Wohlbefinden und einem angenehmeren Alltag. Wichtig ist hier jedoch ein realistisches Erwartungsmanagement: Cannabis ist kein Wundermittel und hilft nicht allen Patienten gleich gut.
Die Zukunft: Wohin geht die Reise?
Eins ist klar: Weitere qualitativ hochwertige klinische Studien sind nötig, um die durch erste Studien gezeigten Effekte zu belegen. Insbesondere fehlen aktuell noch Daten zu:
- Optimalen Dosierungen
- Langzeiteffekten
- Wechselwirkungen mit anderen Rheuma-Medikamenten (positive & negative)
- Vorhersagekriterien zur Bewertung der möglichen positiven Wirkungen
Die Zukunft der Cannabistherapie liegt vermutlich in einer stark individuell angepassten Cannabis-Medizin. Denn: Jede*r reagiert anders auf die verschiedenen Cannabinoide, braucht andere Darreichungsformen, Dosierungen usw. Hier ist es am sinnvollsten, wenn Patienten und Ärzte gemeinsam etwas experimentieren, bis die passende Dosis und Darreichungsform gefunden ist.
Es bleibt zu hoffen, dass die Krankenkassen entsprechend offen sind, wenn es darum geht, diese Art der Therapie zu finanzieren.
Neue Cannabinoide
Neben THC und CBD rücken weitere Cannabinoide wie Cannabinol und Cannabichromen (CBC), Cannabidivarin, Delta-9-Tetrahydrocannabivarin und Cannabigerol (CBG) in den Fokus der Wissenschaft. Diese sogenannten "Minor-Cannabinoide" könnten die Zukunft der Cannabistherapie bei Rheuma weiter beeinflussen.
Gut zu wissen: In natürlichen Cannabisprodukten (z.B. Cannabisblüten) sind insgesamt mehr unterschiedliche Cannabinoide enthalten als in Cannabis-Fertigarzneimitteln oder Cannabis-Extrakten. Ein zusätzlicher positiver Effekt wird aufgrund des sogenannten Entourage-Effekts vermutet, bei dem die verschiedenen Cannabinoide einander in ihrer Wirkung auf das Endocannabinoid-System verstärken.
Fazit: Hoffnung ja, aber ...
Cannabis kann für Schmerzpatienten einen wichtigen Baustein bei der Entwicklung eines ganzheitlichen Therapiekonzepts darstellen. Aber eben nur einen. Es ist weder die erste Wahl noch die letzte Hoffnung, sondern eine zusätzliche Option für Patienten, bei denen konventionelle Therapien nicht ausreichend wirken oder nicht vertragen werden.
Die Entscheidung für eine Cannabis-Therapie sollte immer in enger Absprache mit dem behandelnden Arzt getroffen werden, unter Berücksichtigung der individuellen Situation, der Begleitmedikation und den individuellen Lebensumständen des Patienten.
Cannabis gegen Rheuma ist also weder Wundermittel noch reines Wunschdenken - es ist eine wertvolle, aber noch nicht ausreichend erforschte Therapieoption, die potentiell einen sehr großen Nutzen haben kann.